Margins of Excess
Ein neuer fotografischer Essay von Max Pinckers

Text von Hans Theys, Montagne de Miel, 11. November 2017
Übersetzung: Wilhelm Werthern

English version


Tropen




Margins of Excess ist einer Frage gewidmet, die Pinckers schon immer fasziniert, nämlich, wie Menschen ihre eigene Identität formen – beginnend mit kollektiven Träumen und Wünschen, die teilweise von den Tropen der Massenmedien gefüttert und geformt werden. Diese Frage ist mit der scheinbaren Unfähigkeit der Medien verbunden, intime oder eigenwillige Versionen der Wirklichkeit zu vermitteln.
Dieses Buch hat eine gewebte Struktur. Künstlich beleuchtete und inszenierte „dokumentarische“ Fotografien werden mit „abstrakten“ Fotografien, gefundenen Aufnahmen, aus den Medien entnommenen Bildern, Artikeln aus der Presse und selbstgeführten Interviews kombiniert. Alle diese Elemente werden auf der grafischen Ebene unterschiedlich bearbeitet (anderes Papier, Kompositionen, Formate, Arten der Bindung), was zu einem lesbaren visuellen Rhythmus führt, der es uns ermöglicht, gleichzeitig alle diese Informationen zu differenzieren und miteinander zu assoziieren. 



Sechs Geschichten


Margins of Excess ist um die Geschichten von sechs Menschen herum gesponnen, die einen Moment lang die Aufmerksamkeit der Presse in den USA auf sich zogen, wegen ihrer Versuche, einen Traum oder eine Leidenschaft zu realisieren, die aber als Betrüger behandelt wurden. Im Allgemeinen fühlt sich Pinckers von Themen angezogen, die den Zauber der Fantasie heraufbeschwören, aber gleichzeitig die Unmöglichkeit eines unbeschmutzten persönlichen Traums offenbaren: Immer wieder entdecken wir, dass die Worte und Bilder, die wir verwenden, um uns zu definieren, unbewusst von Anderen geborgt sind, von der Vergangenheit, aus Büchern, Malereien, dem Internet oder den Medien.

Herman Rosenblat wurde durch eine selbst erfundene Liebesgeschichte bekannt, die während des Zweiten Weltkriegs in einem Konzentrationslager spielt, der Privatdetektiv Jay J. Armes scheint ein echter Superheld zu sein, Darius McCollum zog die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, indem er zwanghaft Züge überfiel, Richard Heene inszenierte einen aufwändigen Fernseh-Betrug, Rachel Doležal tat so, als wäre sie „schwarz“, und Ali Alqaisi versuchte Menschen davon zu überzeugen, dass er der „Mann mit Kapuze“ auf dem ikonischen Foto aus dem Gefängnis Abu Ghraib wäre. Pinckers hat sich mit ihnen allen getroffen, um ihre Sicht der Dinge zu hören, und hat ihre Geschichten mit gefundenen Aufnahmen, publizierten Artikeln, selbstgeführten Interviews und künstlich beleuchteten und inszenierten Fotografien dokumentiert.

Diese sechs Geschichten, von denen jede ein eigenes Kapitel bildet, sind durch andere wiederkehrende Themen verbunden: beispielsweise Angst, Aberglaube, die Sichtbarkeit von Minderheiten, die Art, wie Individuen sich mit Hilfe von spezifischen Friseuren, Kleidung, Tätowierungen, Make-up und die Dekorationen ihrer Umgebung darzustellen versuchen – oder durch die Art, in der amerikanische Ureinwohner, westliche Motelzimmer und terroristische Angriffe in Museen dargestellt werden. Ein weiteres Thema ist eine fortlaufende Geschichte über verdächtige Fahrzeuge, die wegen der Allgegenwart von Autos in den USA (und auf diesen Fotografien) dazu neigt, sehr lustig zu werden. 



Falsche Narrative

Einige dieser Fotografien wurden „verlegt“, um ein falsches Narrativ anzudeuten. Beispielsweise wird die Geschichte über den Zugfan Darius McCollum mit einer Fotografie „dokumentiert“, die das Kontrollzentrum eines öffentlichen Verkehrsmittelsystems zeigt, während wir tatsächlich einen Simulator für Menschen sehen, die lernen, wie man ein Schiff steuert. Auf einer Seite finden wir eine Fotografie eines von Richard Heene entworfenen Fluggeräts, wie es im Fernsehen gezeigt wurde, auf einer weiteren Seite finden wir dann eine Fotografie eines gefälschten UFOs, das Pinckers selbst in die Welt gesetzt hat. Auf einer Seite sehen wir echte Polizisten, die jemanden festnehmen, auf einer anderen Seite ist ein Mensch, der scheinbar erschossen wurde, tatsächlich aber eine Puppe in einem Kriegsmuseum ist. Wenn wir den Privatdetektiv Jay J. Armes treffen, könnten wir den Eindruck gewinnen, er wäre eine zum Leben erweckte Actionfigur. Aber wenn wir die beiden Portraits betrachten, die Pinckers von ihm gemacht hat, erinnert er uns eher an eine Figur in einem Wachsmuseum oder ein ausgestopftes Tier in einem Diorama. Mehrere Fotografien in diesem Buch wurden in Museen aufgenommen, beispielsweise in Kriegsmuseum, von denen es in den USA sehr viele gibt. Aber wenn wir glauben, wir sähen ein unechtes orangenes Taxi, das uns an die Lackierszene im Film Taxi Driver erinnert, sehen wir tatsächlich ein echtes, das umgespritzt wird. Manchmal sehen wir ein Atelier mit einem grünen Schlüssel, manchmal sehen wir eine grüne Wand, die auf eine inszenierte „Wirklichkeit“ hindeutet.

In seinem Dokumentarfilm HyperNormalisation (2016) stellt Adam Curtis die These auf, zeitgenössische politische Figuren absichtlich lügen und Fakten und Fiktion vermischen, um ein Klima der intellektuellen Unsicherheit zu erzeugen. In Margins of Excess wird dieses Konzept der Wahrnehmungssteuerung mit der Art in Verbindung gebracht, wie Museen Ereignisse darstellen, Fernsehstudios und Motelzimmer eingerichtet sind, Nachrichten fabriziert werden und wie Menschen sich entsprechend ihrer Ängste, Träume und Erwartungen formen. Wir alle brauchen Formen, Gestalten, Worte und Bilder, um mit der Wirklichkeit klarzukommen, aber wir sollten nicht vergessen, dass diese die Wirklichkeit nie komplett repräsentieren und dass dies nicht bedeutet, dass es die Wirklichkeit nicht gibt. Idealerweise, zu diesem Schluss könnte man kommen, würden die Worte und ständig daran erinnern, dass sie nur Worte sind. Und genau dies will Pinckers mit seinen Fotografien erreichen, indem er sie mit offenkundig künstlichen Elementen versieht.

Ein weiteres immer wiederkehrendes Thema in Pinckers Arbeit ist die unbewusste Tendenz des Fotografen, Fotografien zu machen, die wie bereits existierende Fotografien oder Gemälde aussehen. Anfang des Jahres führte ihn dies zur Entwicklung der Trophy Camera v0.9 (in ´Zusammenarbeit mit Dries Depoorter). Diese Kamera kann Muster identifizieren, die von den World Press Photo of the Year (von 1955 bis heute) abgeleitet sind, und kann dann preisgekrönte Fotografien erkennen, aufnehmen und speichern, die automatisch auf eine Webseite hochgeladen werden. Auf eine ähnliche Art neigen Fotografen dazu, Fotografien aufzunehmen, die wie Fotografien oder Gemälde aussehen, die wir zuvor gesehen haben und die uns berührt haben. Ohne wirklich etwas zu offenbaren oder es gegenwärtig zu machen, erinnern sie uns daran, was wir hinsichtlich eines bestimmten Themas denken oder fühlen sollen.

Für Margins of Excess wurde der Tick dieses Fotografen, Klischees nachzubilden, in eine Serie von „klassischen“ Fotografien übersetzt, die so tun, als würden sie das Leid einer Einzelperson darstellen. Jedes Kapitel enthält eine dieser Fotografien, auf denen wir verstörten, weinenden Personen begegnen, die von professionellen Schaupieler*innen dargestellt werden. Je mehr wir allerdings das Buch durchblättern, desto mehr beginnen diese professionellen Trauernden, unsere eigene Betroffenheit zu repräsentieren. Wir wissen, dass sie schaupielern, aber es ist uns nicht mehr wichtig. Unser Zweifel oder Unglaube ist ausgesetzt. Sie sind real geworden. Wie ein antiker griechischer Chor scheinen sie an unserer statt zu weinen, sie scheinen unser Schicksal zu beklagen, unsere Väter, unsere Mütter und unsere Kinder, unsere verzweifelten Versuche, gerecht zu sein. 



Post-Wahrheit


Das aktuelle Zeitalter des Post-Faktischen, wo Wahrheiten, Halbwahrheiten, Lügen, Fiktion oder Unterhaltung leicht austauschbar sind, hat eine Kultur der „hyperindividuellen Wahrheiten“ geschaffen. Diese erfordern eine neue Herangehensweise, um die zugrundeliegenden Narrative zu identifizieren, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit strukturieren. Die sechs Hauptgeschichten sind in eine geclusterte Erzählung von geklonten Militärhunden, religiösen Erscheinungen, verdächtigen Fahrzeugen, gefakten terroristischen Komplotten, zufälligen Bombenanschlägen und fiktionalen Präsidenten eingebettet. Margins of Excess folgt einer assoziativen Logik, ähnlich der willkürlichen Art, in der eine paranoide Psyche Ereignisse miteinander verbindet, die nichts miteinander zu tun haben. Somit imitiert es die Hysterie des 24-Sekunden-Nachrichtenzylus‘ und die eindimensionalen Formate der Medien, die hauptsächlich darauf angelegt sind, „Nachrichten“ zu verkaufen.

In Margins of Excess sind Wirklichkeit und Fiktion miteinander verwoben. Nicht um uns in die Irre zu führen, sondern um eine komplexere Weltsicht zu offenbaren, die das subjektive und fiktive Wesen der von uns für die Wahrnehmung und Definition der Welt benutzten Kategorien berücksichtigt. Und dann wiederum: Nicht um Oberflächlichkeit und Kontingenz zu feiern, sondern um so zu versuchen, Krach, Summen, Schund, Lügen, Träume, Paranoia, Zynismus und Faulheit zu durchdringen und die „Wirklichkeit“ in all ihrer Komplexität anzunehmen.

Mit dem konfrontiert, was er die „Vulgarität des menschlichen Herzens“ bezeichnete, die ihn machtlos und traurig machte und ihn verzweifeln ließ, glaubte Joseph Brodsky dennoch weiter an die Literatur. Bei mehreren Gelegenheiten plädierte er für eine kostenlose oder preiswerte Verbreitung von Millionen Büchern, denn er glaubte, die Entdeckung eines Buches könnte jemanden retten. Für ihn liegt die Kraft der Literatur in ihrem Verschmelzen westlichen (faktischen, rationalen) und östlichen (intuitiven) Denkens. Ich glaube, er hätte die gleichzeitig poetisch und von Fakten unterfütterte Struktur von Margins of Excess geliebt.




Montagne de Miel, 11. November 2017